Giselastraße, Postkarte, um 1900
I | Die Giselastraße von 1900–1944: Der Standort von Sep Rufs erstem Atelier
Der Blaue Reiter: Als Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky 1896 nach München kamen, mieteten sie in der Giselastraße 23 im dritten Stock eine Wohnung, die bald als „Salon der Giselisten“ oder „rosafarbener Salon“ zum Treffpunkt zahlreicher fortschrittlich gesinnter Künstlerinnen und Künstler wurde, und in die Sep Ruf 1932 mit seinem ersten Atelier einzog.
Der Salon von Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlesky in der Giselastraße 23 war der Ausgangspunkt der Modernen Kunst in München. Hier wurde 1909 die Neue Künstler-Vereinigung München gegründet, aus der zwei Jahre später der „Blaue Reiter“ hervorging. Beim Neujahrsempfang am 1. Januar 1911 lernte Franz Marc in Werefkins Atelierwohnung Wassily Kandinsky und Gabriele Münter kennen.
Sep Ruf in seinem Atelier, Giselastraße 23, © Nachlass Familie Ruf , Gmund am Tegernsee/Castellina in Chianti
Giselastraße 23: Sein erstes eigenes Atelier bezog Sep Ruf 1932 im dritten Stock im Rückgebäude des Hauses Giselastraße 23 in Schwabing unweit der Akademie der Bildenden Künste München. In der Wohnung arbeitete Ruf wahrscheinlich nicht nur, sondern wohnte auch dort. Sein Zimmer richtete er mit Stahlrohrmöbeln ein, wie dies 1927 auf der Stuttgarter Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorgeführt worden war. Die klare, offene und schlichte Form der Möbel war Ausdruck einer neuen Haltung in Alltagskultur und Architektur, die zunächst nur von Avantgardisten geschätzt wurde. Rufs Einrichtung ist somit ein demonstratives Zeichen und frühes Bekenntnis des Architekten zur Moderne und dürfte singulär in München gewesen sein.
Postkarte »Deutschland erwache! Heilgruß aus München«, 1933
Auskunft über die politische Zuverlässigkeit von Sep Ruf: Am 8. Juni 1938 erbat der „Landesleiter für bildende Künste der Landeskulturverwaltung Gau München-Oberbayern“ Auskünfte über die politische Zuverlässigkeit und die charakterlichen Eigenschaften von Sep Ruf. Die politische Beurteilung des Ortsgruppenleiters „München-Siegestor“ vom 20. Juli 1938 fiel knapp aus: „Der Genannte ist Mitglied der Reichskulturkammer, steht im freien Beruf. Mitglied der Partei ist er nicht, einer Gliederung gehört er nicht an. Er hat somit noch keine Mitarbeit in der Partei oder einer Gliederung geleistet. Er ist kinderlos verheiratet. Er ist Mitglied der NSV, Bezieher des VB, offener sympathischer Mensch, charakterlich und politisch in Ordnung. Nachteiliges kann nicht gesagt werden.“
Georg W. Buchner, Zeichnung für die Festdekoration der Giselastraße zum „Tag der Deutschen Kunst“ am 10. Juli 1938, © Architekturmuseum der TUM
Giselastraße 1938: Georg W. Buchner war seit 1931 Professor an der Akademie für angewandte Kunst (während der NS-Zeit eine Hochburg nationalsozialistischen Kunstschaffens) und für die Gestaltung der Aufmärsche und Festumzüge am Tag der Deutschen Kunst, 1937, 1938 und 1939 sowie anlässlich Mussolinis Deutschlandbesuch im September 1937 in München zuständig.
Auch Sep Rufs späterer Kollege an der Akademie der Bildenden Künste, der Glasmaler Josef Oberberger, war seit 1939 Professor an der „Akademie für angewandte Kunst“ und schuf Zeichnungen für Festdekorationen.
Sep Ruf als Soldat vor seinem „Singer“, © Nachlass Familie Ruf , Gmund am Tegernsee/Castellina in Chianti
Einberufung zum Kriegsdienst 1939: Mit Kriegsbeginn wurde Sep Ruf 1939 zum Wehrdienst eingezogen, erhielt aber ein Jahr später, im September 1940, für „wehrwichtige Bauten“ eine Freistellung. Ruf war zunächst im Beraterstab von Hermann Giesler am Ausbau der „Hauptstadt der Bewegung“ für die Wohnbauten an der Forstenrieder Straße tätig.
Zeichnung, in: Hans-Peter Rasp, Eine Stadt für tausend Jahre, München 1981, S. 175
Umgestaltung der Giselastraße: 1937 schuf das Gesetz zur „Neugestaltung deutscher Städte“ die Grundlagen für Großplanungen, nach denen reichsweit Städte, teilweise durch radikale Einschnitte in die historische Bausubstanz, als sichtbares Zeichen der NS-Herrschaft monumental umgestaltet werden sollten. In München wurden die Planungen unter Leitung einer „Sonderbaubehörde“, die seit 1939 „Generalbaurat“ hieß, betrieben. Das Amt hatte bis 1945 Hermann Giesler inne. Seine Dienstelle befand sich in dem von Sep Rufs Lehrer, German Bestelmeyer, 1936/37 errichteten Studiengebäude am Bayerischen Nationalmuseum an der Prinzregentstraße.
Bei der Umgestaltung der Giselastraße 1940/41 wäre auch das Haus Nr. 23, in dem sich Sep Rufs Atelier befand, abgebrochen worden.
Schreiben von Sep Ruf, 28. Januar 1942, © Nachlass Familie Ruf , Gmund am Tegernsee/Castellina in Chianti
Schliessung Architekturbüro 1942: Mit dem neuerlichen Einberufungsbefehl sah sich Sep Ruf gezwungen, sein Architekturbüro zum 1. Februar 1942 zu schließen.
Zu Beginn des Jahres 1944 war Sep Ruf im Süden der Ukraine stationiert und lernte dort den Architekten Leopold Wiel kennen, der unmittelbar nach seinem Architekturstudium an der Hochschule für Baukunst und bildende Kunst in Weimar 1940 zum Kriegsdienst eingezogen worden war. Die beiden Architekten waren nun unter anderem für die Einrichtung des Offizierkasinos verantwortlich. In ihrer „freien“ Zeit zeichneten sie fiktive Projekte unter anderem für ein „Haus am See“ und tauschten ihre Skizzen aus. Rückblickend beschrieb Wiel den Austausch mit dem acht Jahre älteren Ruf als ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, Ruf hätte ihn jedoch nicht wie einen Schüler, sondern wie einen Kollegen behandelt.
Durch einen Fliegerangriff in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1943 wird auch das Atelier von Sep Ruf in Giselastraße 23 zerstört, Aufnahme vom 6. Oktober 1943.